Gedanken für den ersten Sonntag nach Ostern zum Predigttext von Heiner Sandig

Wahrscheinlich können wir schon in einer Woche in unserer Gemeinde kleine Gottesdienste wieder feiern. Wir wünschen uns das sehr, denn es ist schon mühselig, als Christen in der Osterzeit nicht zusammen kommen zu können. An diesem Sonntag mit dem schönen alten Namen „Quasimodogeniti“ (in Deutsch „Wie die neugeborenen kleinen Kinder“) sind Gemeindegottesdienste noch nicht erlaubt, deshalb hier einige Gedanken zum empfohlenen Predigttext:

„Hebt Eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat dies alles geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen, seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt. Warum sprichst Du denn, Israel, und Du Jakob sagst: „mein Weg ist Gott verborgen und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber? Weißt Du nicht, hast Du es nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wir nicht müde und matt. Sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. Männer werden müde und matt, Jünglinge straucheln und fallen. Aber die auf den Herrn harren kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“
(Jesaja 40, 26 - 31)

Ursprünglich geschrieben wurde unser Bibeltext zur Zeit des zweiten Jesaja. Er wendet sich an die Israeliten, die nach dem verlorenen Krieg gegen die Babylonier ins Exil in die Fremde geführt wurden. Es war eine scheinbar aussichtslose Lage, in der keinerlei Grund zur Hoffnung besteht.

Menschen, die alles verloren haben, die sich kraftlos hängen lassen müssen, die den Kopf zur Erde neigen, wohin auch sonst. Diesen Menschen ruft der Prophet zu:
Hebt Eure Augen in die Höhe!

Versuchen wir, diese Bewegung einmal für uns nachzuvollziehen: Den Kopf heben! Merken wir, dass sich dadurch unsere ganze Körperhaltung verändert? Wir werden aufrechter, der Oberkörper wird weiter, wir bekommen mehr Luft.

Jeder rät einem derzeit, wo wir alle berechtigte Angst vor einer tödlichen Lungenentzündung im Zusammenhang mit Corona haben müssen, genau dazu: Alles zu tun, was die Atmung groß und weit werden lässt. Aufrecht sich an der frischen Luft bewegen ist dazu nicht nur ein wichtiger körperlicher Beitrag. Sondern eben auch ein seelischer: Wenn wir uns aufrichten, wenn unser Blick wieder weit wird, wenn wir regelmäßig atmen können, dann schwindet die Panik.

Hebt Eure Augen in die Höhe! Es ist eben gar nicht so, wie viele immer behaupten, dass unsere alte Bibel nur ein historisches Dokument voller frommer Worte sei. Nein, diese alten Worte haben eine Lebendigkeit und Kraft, die uns immer wieder neu in Bewegung bringen kann. Und: Diese alten Worten bringen Körper und Seele in Verbindung. Und heilen auf diese Weise in einer Form, die heute, wo wir den Zusammenhang von Körper und Seele immer besser verstehen, wieder ganz neu in den Blick gerät.

Die Juden hatten übrigens gar kein Wort für „Seele“. Sie haben von „Leben“ gesprochen, von „Lebendigkeit“, und damit zum Ausdruck gebracht: Es gehört alles zusammen: Wenn wir unsere Augen heben, dann hat das Auswirkungen auf unser ganzes Leben. Es verändert die Sichtweise auf die Welt, auf uns selbst, auf unsere Mitmenschen und auf Gott, der unser Leben umgibt wie die Luft zum Atmen.

Können wir diese Worte in unserer Zeit für uns persönlich hören? Können wir sie hören, wir, die wir uns auch in einem kleinen Exil befinden seit ein paar Wochen? Abgeschnitten von vielem, das bisher unser Leben ausmachte? Können wir diese Worte hören, wenn wir Existenzängste haben und viele nicht wissen, wie es finanziell weitergehen soll?

Können wir diese Worte hören, wenn wir die Schreckensbilder aus aller Welt sehen? Die Menschen, die in ihrem Flüchtlingslagern oder Slums der Krankheit hilflos ausgeliefert sind? Wenn wir die Massengräber in New York sehen und die Todeszahlen in Russland?

Ich möchte die Trostworte des zweiten Jesaja auch für mich in meinen Tagen noch einmal ganz neu hören und glauben dürfen:
„Gott wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich, er gibt dem Müden Kraft und Stärke dem Unvermögenden“
Ich denke an die, die Unglaubliches geleistet haben in den vergangenen Tagen und Wochen.

Ich denke an die vielen Beschäftigten in den Krankenhäusern und Heimen. Die, die uns täglich in hoffentlich vollständiger Schutzausrüstung über den Bildschirm flimmern. An die, die aus ihrer Rente heraus noch einmal in den Einsatz zurückgekehrt sind. Die Doppelschichten leisten und mit ihren Ängsten irgendwie fertig werden müssen. Ich denke an Familienangehörige, die sich nun wieder rund um die Uhr um pflegebedürftige Angehörige kümmern, weil im Heim Aufnahmestopp ist.

„Ja, Gott gibt den Müden Kraft, er macht die Schwachen stark.
Die auf Gott trauen, bekommen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“ Klar, niemand von uns kann unendlich laufen und arbeiten. Und so kann das „Weitergeben von Gottes Botschaft“ in unseren Tagen eben genau dies bedeuten, dass wir uns gegenseitig entlasten. Dass wir für einen anderen laufen, damit der oder die einmal wieder ganz neu den Blick heben kann.

Ich wünsche uns allen, dass die alten biblischen Worte für uns ganz neue Aktualität in diesen Tagen bekommen, dass wir wieder aufatmen können und Kraft bekommen "wie die neugeborenen Kinder“.

Pfarrer Heiner Sandig

 

 

.